systemrelevant

Wer zieht eigentlich gerade den Karren?

Bäcker, Kassierer, Krankenpfleger, Altenpfleger, Müllmänner, LKW-Fahrer. Und, ja, auch unzählige Reisebüromitarbeiter, die sich für ihre Kunden aufopfern. Ohne sie alle geht im Moment gar nichts. Was vereint diese Berufsgruppen? Richtig: Allesamt arbeiten sie im Niedriglohnsektor. Da kann man mal drüber nachdenken, oder?

Im Vergleich stehen wir Reisebüros wohl ganz zurecht nicht an erster Stelle im Fokus des öffentliches Interesses. Aber dies ist ein Reiseblog und es gibt so einiges zu sagen. Meine persönliche Rolle war dabei eine äusserst bescheidene. Mein Team hat Großes geleistet, während ich – zufällig an den zwei ganz entscheidenen Tagen – bei meinem Mann an der See war. Ich bin letzten Freitag eingestiegen und seitdem im Krisenmodus. Erst einmal ging’s darum, diese Kunden, die unterwegs waren, nach Hause holen. Dann galt es zu beruhigen, denn auch die Menschen hier hatten Fragen. Was ist mit den Osterferien? Kann ich reisen? Bekomme ich mein Geld zurück? 83 abreisende Vorgänge sind es nur bei uns Stand heute noch, und nur bis Ende April. Das ist inzwischen alles abgesagt, alles aus. Jede einzelne Reise war ein Stück Handarbeit, die nun kassiert wurde. Da fühlt man sich wie ein Maler, dem jemand die Schere reicht. Nun sind wir Kummer gewohnt: Thomas Cook-Pleite, Airline-Insolvenzen, Naturkatastrophen und Streiks, Streiks, Streiks, die immer zu Mehrarbeit führen, die immer auf unseren Tischen landet, die aber niemals vergütet wird.
Diesmal ist die Situation noch perverser: Man nimmt uns das Geld für geleistete Arbeit rückwirkend zurück. Vom Konto. Zack. Denn Provision gibt’s auf den Reisepreis. Und x % von Null ist Null. Bäcker Bosselmann hat unser aller Herz berührt, aber ich sehe in den einschlägigen Tourismus-Foren täglich Kollegen und Reisebüroinhaber, die weinen, ja, die verzweifelt sind.
Gehen wir noch einen Schritt weiter. Wir werden vielleicht unsere Arbeit verlieren. Vielleicht müssen wir ein Auto verkaufen oder ein Pferd.
Was aber ist mit unseren Agenturen auf der ganzen Welt? Wer kümmert sich um die Mitarbeiter der Zeltcamps in der Serengeti, die nun keine Gäste haben werden? Mich dünkt, dass es uns schwerst treffen wird hier in Europa. Aber die letzte Rechnung werden wohl die ärmsten der Armen begleichen, wie immer.

Und hier? Gerade erst habe ich meinem Mann zu seinem runden Geburtstag eine Rede gehalten, in der ich ihn darauf hinwies, dass er keinen Grund hat, sich je über irgendetwas aufzuregen. (Und schon gar nicht über meine Fähigkeiten das Einräumen der Spülmaschine betreffend). Wahrscheinlich hat es hier in Hameln niemals eine so lange Friedensperiode gegeben wie seit dem Sommer seiner Geburt 1946. Was für ein Glück, so rein weltgeschichtlich! Was für ein Glück. Jetzt ist Corona da, und es wird vielleicht schlimmer als Krieg. 800 Tote in Italien alleine gestern. Haben Sie die alten Menschen im Fernsehen gesehen, die sich unter Tränen von ihren Lebenspartnern verabschieden müssen, weil Besuche in den Pflegeheimen zu gefährlich werden? Jedes Wiedersehen ungewiss? Furchtbar.
Und doch passiert auch so viel Schönes in dieser schlimmen Zeit. Solidarität und Hilfsbereitschaft wird an so vielen Orten sichtbar, nicht zuletzt in unserem eigenen Hausflur, wo zwei junge Leute anbieten, das Einkaufen für die älteren Semester zu übernehmen. Wir stationären Reisebüros, eigentlich Konkurrenten, wir arbeiten online bereits fleißig an gemeinsamen Überlebensstrategien. Der Think Tank ist eröffnet! Oder wenn ich an all die Balkonkonzerte in Italien denke! Wunderbar.

Da bin ich also ganz gefangen in meiner traurig-aber-irgendwie-auch-glücklich-Welt und schalte heute Morgen den Flugmodus meines Smartphones aus. Und lese im Newsticker: Können Flüchtlinge unsere Spargelernte retten? Bitte, was? Arbeit macht frei? Darf man in diesem Land eigentlich jetzt alles ungestraft sagen? Das FUNK-Corona-Video war, nebenbei gesagt, keinen Deut weniger degoutant. Und willkommen zurück in der wütend-Welt! Denn die wohltuende Ruhe vor den Schreihälsen vom rechten und vom linken Rand, während das Land ein paar Tage in Schockstarre verharrte, die war leider nicht langanhaltend. Neuerdings schreien sie ja auch aus der sogenannten Mitte.
Ich mag nichts mehr lesen (oder, noch schlimmer: YouTube-Videos sehen) von Leuten, die nur schimpfen, ohne jemals eigene Vorschläge zu präsentieren. Stattdessen gehe ich offline und lese nun einen Klassiker, die vielleicht schönste Liebesgeschichte aller Zeiten. (Denn ich brauche was richtig Gutes nach dem Brett „Call me by your name“ von André Aciman). Ich lese jetzt Wuthering Heights.

Und ich habe einen Vorschlag: Jeder Mensch ist systemrelevant.

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